Lucie Neumann
Stress – landauf, landab. Im aktuellen Jahr des Arbeitsschutzes begegnet uns das Thema in zahlreichen Facetten. „Und das ist wirklich Stress“, seufzt eine Betriebsärztin.
Wohl wahr, Stress ist ansteckend. Er kann in allen Lebensbereichen entstehen. Zum Beispiel im Privaten, und besonders dann, wenn achtzig- oder neunzigjährige Eltern immer schlechter schlafen, dabei immer unglücklicher werden und Losungen wie „Alter ist nichts für Feiglinge“ nur für einen kurzen Moment Heiterkeit stiften.
Bislang akzeptierten wir die „senile Bettflucht“ notgedrungen als Begleiterscheinung des Alters – aber damit ist es, so scheint es, bald vorbei: Nicht die alten Menschen schlafen besonders schlecht, sondern die jungen. Und genauer: Ein Forschungsteam der University of Pennsylvania fand in einer Befragung von 155 000 Bürgern heraus, dass körperlich gesunde Senioren von allen befragten Personengruppen am seltensten unter Schlafstörungen leiden. Daraus ziehen die Forscher den Schluss, dass zwar Erkrankungen und Depressionen die Qualität der Nachtruhe beeinträchtigen können, das Alter an sich aber nicht. Die Forderung der amerikanischen Schlafmediziner an die Adresse ihrer ärztlichen Kollegen, insbesondere an die Hausärzte, lautet deshalb: „Nehmt Schlafstörungen endlich ernst.“
Nehmt Schlafstörungen endlich ernst – damit könnte dieser Artikel beendet sein. Das ist er nicht, im Gegenteil: Jetzt wird es erst interessant: Die „senile Bettflucht“ ist nur ein Beispiel für Klischees, Überzeugungen oder sogar Forschungen, die – unhinterfragt – Lebensqualität verhindern, statt sie zu verbessern. Oder wie schon Mark Twain sagte: „Vorsicht vor Gesundheitsratgebern – Sie könnten an einem Tippfehler sterben.“
Gar so brisant ist es mit dem Bettflucht-Klischee zwar nicht, aber die Wirkung von Worten ist nicht zu unterschätzen: Eine Ruckzuck-Diagnose wie „Das liegt am Alter“ macht Menschen sofort „alt“ – oft älter, als sie sind. Das zeigen eindrucksvoll Experimente, in denen Studenten Fotos von Gegenständen, die mit Alter assoziiert sind, wie ein Stock, ein Hut, angeschaut oder Texte übers Alter gelesen haben – und prompt dauerte der Gang zur Mensa 30 % länger als bei der Vergleichsgruppe, die „schöne“ Fotos gesehen hatten.&nb
Kurz und knapp: Worte haben Wirkung, in die eine oder in die andere Richtung – wir sollten schon deshalb besser darauf Acht geben, für den Fall, dass wir selbst alt werden.
Dennoch: Was ist dran an der senilen Bettflucht, die angeblich jeder kennt, der alt ist?
Ich glaubte noch nie an dieses Klischee. Und mein Vater kannte sie überhaupt nicht, er schlief immer hervorragend und wurde vitale 93 Jahre alt. Vielleicht war er der Auslöser für mein anhaltendes Interesse am noch immer weit unterschätzten Thema Schlaf. Als ich ihm von meinen Schlaf-Recherchen an der Berliner Charité berichtete – damals war er 80, kletterte auf Bäume, um Kirschen zu ernten, und plante nach einem Herzinfarkt gemeinsam mit meiner Mutter eine Reise nach Kalifornien –, da lachte er und winkte durch, was noch heute unter „Alter“ in dürren Worten auf der Charité-Website zu lesen steht: „Schlafstörungen nehmen im Alter zu und lassen sich manchmal nur schwer von normalen altersbedingten Veränderungen des Schlafs unterscheiden.“
Tatsächlich ist es nicht leicht, die flapsigen Äußerungen rund um den Schlaf der Alten zu ordnen. Zu seiner Herkunft: Eigentlich ist die senile Bettflucht ein Scherz. So viel weiß auch Wikipedia in seiner vorläufigen Weisheit: „Senile Bettflucht ist eine Scherzbezeichnung für ein vermindertes Schlafbedürfnis im Alter, das durch ein frühes Erwachen gekennzeichnet ist.“ Nichts Neues im Westen, denn schon 1984 schrieb einer der Großen der Schlafmedizin, der Züricher Arzt Alexander Borbely, über das Früherwachen „(...) das scherzhaft als ,senile Bettflucht‘ bezeichnet wird.“
Wie so oft bei Klischees lässt sich ihr Ursprung nicht ermitteln: Irgendjemand hat irgendwann irgendetwas gesagt – und plötzlich ist es jahrzehntelang wahr. So nisteten sich der Begriff und die vage Bedeutung der senilen Bettflucht fest im Volksmund ein.
Wie konnte aus Scherz Ernst werden? Schließlich war es auch zu Borbelys Zeiten eine offene Frage, ob sich die gesamte tägliche Schlafzeit im Alter ändert.
Es scheint, sogar die Forschung machte hier kurzen Prozess. Für die junge Wissenschaft der Schlafforschung gab und gibt es viel zu tun und altersbedingte Schlafstörungen stehen nicht in der ersten Reihe der wichtigsten Fragen. Das könnte sich nun ändern, nicht zuletzt, weil inzwischen stressbedingte Schlafstörungen im Verdacht stehen, Auslöser für psychische und medizinische Störungen zu sein. Bislang galten sie lediglich als Nebeneffekt oder Symptom für andere Krankheiten wie Depression oder Diabetes. Wenn nun parallel dazu auch die Lebensqualität der Alten in einem neuen Licht betrachtet wird, dann nützt das allen.
Dennoch hält sich der Begriff der senilen Bettflucht zäh, Google findet sogar eine Seite im Netz, die die senile Bettflucht eine psychosomatische Störung nennt – mit Verlaub: Da hört der Spaß nun wirklich auf.
Zurückhaltender, aber dennoch ein Klischee: Im Januar 2012 postete ein Apotheken-Publikums-Magazin „Es gibt sie, die ‚senile Bettflucht‘. Mit dem Alter weckt die innere Uhr tatsächlich immer zeitiger.“ Und wieder vermittelt sich der Eindruck, als passten Schlaf und Alter nicht zusammen, als müsse die Qual der Schlaflosigkeit ertragen oder mit Medikamenten bekämpft werden – zu wessen Wohl, fragt sich da.
Als gesichert gilt heute, dass Senioren eventuell einen anderen Schlafrhythmus haben und zum Beispiel ein Schläfchen am Nachmittag die Nachtschlafzeit verringert. Die Gesamtschlafzeit liegt dennoch wie bei allen anderen Altersgruppen zwischen fünf und zehn Stunden. Es ist möglich, dass Sorgen, nicht zuletzt übers Älterwerden, den Schlaf stören. Im besten Fall finden sich dann geduldige Zuhörer, die neue Ideen einbringen, wie damit umzugehen ist. Wenn alte Menschen jedoch dauerhaft schlecht schlafen, dann verhält es sich wie bei jüngeren: Ein vernünftiger Arzt soll die körperlichen Ursachen klären und helfen.
Bei Licht betrachtet: Die senile Bettflucht ist ein übler Scherz, der schwach macht, lösbare gesundheitliche Probleme überdeckt oder andere erzeugt – und mit dem gesunden Menschenverstand hin zu mehr Lebensqualität schnell verändert werden könnte. Was in klugen, innovativen Senioren- und Pflegeheimen auch schon geschieht: Hier dürfen Senioren ausschlafen. In einem beispielhaften Heim liest es sich so: „Jeder, der bei uns lebt, kann den Tag so beginnen, wie er es sich im Laufe seines Lebens angewöhnt hat. Wer den frühen Morgen genießen will, kann aufstehen, und wer ausschlafen will, kann schlafen. Die Frühstückszeit endet um 10.30 Uhr.“
Das klingt gut: Ein Stressfaktor weniger für uns im Alltag und im Alter – das hilft allen.